Haben wir wirklich nichts gelernt?
Bewährungsprobe für uns: Marlene Dietrichs Besuch

Im Rahmen einer Europatournee wird Marlene Dietrich ab 30. April in fünf deutschen Städten gastieren. Ihr Entschluss, Deutschland zu besuchen, hat viel unerwartete Aufregung hervorgerufen. Die Mehrheit der Deutschen freut sich auf das Wiedersehen, aber es gibt auch viele, die die Haltung der Schauspielerin im Kriege nicht verstehen wollen. Unser Chefreporter besuchte Marlene Dietrich zwei Tage vor ihrer Abreise nach Europa in ihrer New Yorker Wohnung.

Von Joachim Besser

New York, 5. April

Als ich an der Tür von Marlene Dietrichs Wohnung in der Park Avenue in Manhattan klingele, muss ich einen Moment lang an die Lola im „Blauen Engel“ denken. Wird mir eine Frau öffnen, die diesem Bild entspricht? Nichts davon, natürlich. Eine Dame öffnet, eine Dame voller Zurückhaltung und Kultur. Sie trägt lange graue Hosen, einen grau-weiß gestreiften Pullover, sie ist nicht mehr geschminkt als jede andere Frau. Sie sieht frisch und elastisch aus, hat die Figur einen jungen Mädchens, aber ihr Verhalten und ihre Worte sind reif, überlegt und beherrscht.

In ihrem Zimmer sieht es turbulent aus, nach Abreise. Auf ihrem Schreibtisch türmen sich Zeitungsausschnitte, alle aus Deutschland, und Berge von Briefen. Schreckliche Briefe sind dabei, Briefe, nach deren Lektüre man sich schämt, dass so etwas in deutscher Sprache abgefasst wurde, aber auch Briefe, die den Schmutz wieder gutmachen.

Ich hebe die Zeitungen und die Briefe hoch und sage: „Wundert Sie das eigentlich? Haben Sie etwas anderes erwartet?“ Sie steckt sich eine Zigarette an, eine der fünfzig, die sie am Tage raucht, und sagt: „Ich hatte gedacht, dass man mich angreife, weil ich nicht nach Deutschland komme. Nun bin ich erstaunt, dass man mich aus entgegengesetzten Gründen tadelt Damit hatte ich nicht gerechnet.“

Ich sage nichts, lasse sie weiterdenken, bis sie fortfährt: „Doch ich freue mich wirklich auf meine Heimat. Nur eines will ich nicht und werde ich nicht tun: ich werde mich keiner Pressekonferenz stellen, die zu einer Art Tribunal wird. Keinen Nürnberger Prozess mit mir, bitte! Ich habe mich für nichts zu entschuldigen und ich werde mich für nichts entschuldigen. Ich habe Hitler gehasst und hasse ihn noch, niemals aber habe ich mein eigenes Volk gehasst. Ich denke, es ist die Politik Amerikas und Deutschlands, nun endlich die Vergangenheit zu vergessen. Wenn man diesen Grundsatz mir gegenüber nicht auch anwenden will, dann hat mein Besuch keinen Sinn. Ich komme, um Freude zu bringen, aber nicht, um mich zu verteidigen.“

Wie kam es zu Marlene Dietrichs Reise? Nach ihrem Pariser Triumph im Jahre 1958 kamen die deutschen Konzert-Agenten zu ihr und baten sie, nach Deutschland zu kommen. Ihr amerikanischer Impresario arrangierte dann eine Europa-Tournee und sie bestand darauf, Deutschland einzubeziehen, da sie nicht um ihr Heimatland herumfahren wollte.

Aber jenes törichte Argument, sie könnte in Amerika nicht mehr genug verdienen und halte deshalb nunmehr nach der Deutschen Mark Ausschau, zerflattert zu einem Nichts, wenn man ihre hiesigen Angebote sieht. Allein ihr Auftreten in Las Vegas bringt ihr wöchentlich 30000 Dollar oder 120000 D-Mark. Sie kann jeden Tag in Filmen spielen, aber sie lehnt alle Rollen ab, die ihr nicht passen. Sie hat seit Jahren ein Angebot, eine Schau im Fernsehen zu leiten, wobei sie ein Jahresgehalt von 150000 Dollar beziehen würde. Auch dies hat sie bisher immer abgelehnt, weil sie nur dann bereit ist, ins Fernsehen zu gehen, wenn sie eine erstklassige Schau bieten kann.

Sie hat ein Angebot Käutners abgelehnt, die Mutter in seinem Hamletfilm zu spielen, aber sie ist jederzeit bereit, in Deutschland einen Film nach Brechts Dreigroschenoper zu drehen. Jedermann in Amerika, der diese Frau kennt, weiß, dass sie nicht dem Geld nachläuft Jeder weiß hier, dass sie Überzeugungen hat. die ihr heilig sind. Sie hätte die reichste und verwöhnteste Frau Deutschlands werden können. Sie erzählt:

„Zweimal hat Hitler zu mir Kontakt gesucht und mir anbieten lassen, ich sollte die große, deutsche Schauspielerin werden, sollte meine Rollen selbst bestimmen, alle materiellen Güter haben, die ich mir wünschte. Einmal hat er sogar Herrn v. Ribbentrop entsandt, um mich zurückzuholen. Ich habe nur sagen lassen, ich kenne Herrn von Ribbentrop nicht und wünschte nicht, mich mit einem Unbekannten zu treffen.“

„Als ich Hitler hörte, wusste ich . . .“

Als sie dies erzählt hat, taucht nun doch noch einmal die ganze deutsche Vergangenheit wieder auf. Die alten Schatten steigen empor, und Marlene Dietrich sagt: „Ich will ihnen jetzt etwas erzählen, was ich unter anderen Verhältnissen sonst erst auf einer Pressekonferenz in Deutschland berichtet hätte.

Wissen Sie, was ich war, als Sternberg nach Deutschland kam, um mit Jannings den ‚Blauen Engel‘ zu drehen? Ein Nichts, eine ,Non-entity', wie man hier sagt, eine unbeholfene, unbekannte Schülerin Max Reinhardts. Sternberg sah mich und fragte: ‚Wer ist denn die da?‘ Ach, erwiderte man ihm, niemand, die kennt keiner. ‚Ich will sie sehen‘, beharrte der berühmte Regisseur aus Hollywood.

Er sah mich und sagte: ,Sie spielen die Rolle der Lola‘. Ich widersprach, das könne ich nicht. Er sagte: ‚Reden Sie nicht. Sie spielen das!‘

Die Ufa hatte, wie es immer üblich ist, eine Option von fünf Jahren auf mich. Der Film kam heraus, wurde ein Welterfolg, aber die Ufa wollte mich nicht haben. Sie machte keinen Gebrauch von ihrem Optionsrecht. Ich hatte keine Chancen in Deutschland.

In diese Lage hinein kam Sternbergs Angebot, nach Amerika zu kommen. So ging ich, da mich zu Hause niemand wollte, mit großen Sorgen nach Amerika. Hier hatte ich bald Erfolg. Amerika war gastlich, großzügig, akzeptierte mich. Aber ich hatte nie den Gedanken, hierzubleiben.“

Hier unterbrach ich sie: „Aber wie kamen Sie dann dazu, amerikanische Bürgerin zu werden?“

Sie antwortete: „Hitler brachte mich dazu. Ich verstand damals nichts von Politik, gar nichts, aber nach Hitlers Machtergreifung drangen schreckliche Nachrichten zu uns, über Judenverfolgungen, Konzentrationslager und vieles andere.

Ich glaubte es nicht

Ich fuhr 1934 wieder nach Deutschland. Auf dem deutschen Schiff geschah dann folgendes: Während eines Mittagessens erschien plötzlich der Chefober und forderte uns alle auf, uns zu erheben, der Führer werde jetzt sprechen. Ich stand auf, da ich Deutsche war, und hörte zu. Aber von der Stunde an wusste ich, dass in Deutschland eine schreckliche Epoche begann, dass alles stimmen musste, was man in Amerika hörte, und ich stieg in Cherbourg aus und ging nicht mehr nach Deutschland.

Die Amerikaner haben mich dieser Haltung wegen immer gerühmt. Ich weise dieses Lob zurück. Viele Deutsche hätten wie ich gehandelt, wenn sie die Gelegenheit gehabt hätten, die Wahrheit über Hitler zu hören.“

Marlene Dietrich hat aus ihrer Haltung die Konsequenz gezogen. Sie ist 1937 amerikanische Bürgerin geworden, hat im Kriege für die amerikanische Truppe gesungen und war in amerikanischer Uniform in Deutschland. Sie hat 1945 im zerstörten Berlin ihre Mutter begraben und war seither nicht wieder in unserem Land. Sie ist allerdings niemals, wie man fälschlich behauptet in französischer Uniform durch Paris marschiert, aber sie hat Zeit gebraucht, um zu vergessen. Sie ist mit den amerikanischen Truppen nach Bergen-Belsen gekommen, als dort noch Tausende von ermordeten Opfern umherlagen. Die Schreckensbilder des Hitlerschen Aberwitzes haben sich ihr eingebrannt und sie hat darunter gelitten.

Ich fühle, dass sie von diesem Bericht erschöpft ist Aber ich fragte sie, warum sie nicht schneller vergeben konnte.

Sie erwidert: „Selbst ehemalige deutsche Juden haben mich dies gefragt, darauf kann ich Ihnen nur dies sagen: Wenn man Jude ist, ist es leichter, zu vergeben, so wie man alles das leichter verzeihen kann, was einem von anderen zugefügt wird. Ich aber fühlte, die Mitverantwortung, ich gehörte zu der Nation, die das alles angerichtet hat.

Kann sich niemand den Seelenkonflikt vorstellen, in dem man lebt, wenn die eigene Mutter in Berlin stündlich von amerikanischen Bomben bedroht, ist und man dennoch hoffen muss, dass nicht die Deutschen diesen Krieg gewinnen müssen, ahnt das niemand in Deutschland?“

Ich fühle mich verpflichtet, ihr auf die verzweifelte Frage ein wenig Hilfe zu geben und sage: „Ich sah als Soldat in Polen 1941 in einer kleinen Stadt zum ersten Male, wie Leute 2000 Juden an einen Waldrand führten und sie erschossen. Von da an wusste ich, dass ich auf der falschen Seite kämpfte. Aber ich war machtlos und kämpfte weiter, immer hoffend, dass Hitler diesen Krieg verlieren möge. Und ich glaube, ein guter Deutscher zu sein und mein Land zu lieben.“

Marlene Dietrich sagt: „Es gibt keinen Menschen in dieser Welt, der nicht unter Hitler gelitten hat, er hat uns alle in eine maßlose Verwirrung gestürzt, hat uns gezwungen, zu verachten, was wir lieben wollten und hat uns die Seele im Leib umgekehrt. Ich denke es ist Zeit, das nun endlich zu vergessen, keine Anklagen mehr zu erheben und die Schatten der düsterem Vergangenheit zu begraben.“

Als ich sie verlassen hatte, war mir eines klar: Der Besuch Marlene Dietrichs wird, gegen ihren Willen, mehr sein als das Auftreten einer Künstlerin: eine politische Probe für uns. Sollte man sie wirklich mit Tomaten und faulen Eiern empfangen, wird das deutsche Ansehen in Amerika weiter fallen, werden wir einen neuen Beweis liefern, dass wir nichts gelernt haben aus unseren Fehlern.

Für Amerika ist Marlene Dietrich; eine Deutsche, die den Mut hatte, sich gegen Hitler zu bekennen. Wenn wir sie heute ablehnen, urteilen wir nicht über sie, sondern über uns. Unser Ruf in diesem Land verträgt nicht mehr vieler solcher Pannen.

Die Welt, Bonn, vom 06.04.1960